Von Perle zu Perle

Wenn das Weinlaub in allen Farben des Herbstes aufleuchtet, im Tal silbern der Main glitzert und die Abendsonne die letzten Strahlen über die sanften Hügel des Fränkischen Weinlandes schickt, ist es hier am schönsten. Nicht zuletzt wegen ihrer traumhaften Lage ist die Wallfahrtskirche Maria im Weingarten bei Volkach am Main auch für Einheimische ein wahrer Kraftort. Auch das über 600 Jahre alte Gnadenbild und die weit über Franken bekannte Rosenkranzmadonna des gotischen Meisters Tilman Riemenschneider, die 1962 Gegenstand eines spektakulären Kunstraubs war, laden zum Verweilen ein. Seit 2002 liegt die spätgotische Kirche am Fränkischen Marienweg und ist damit eine von vielen Perlen auf diesem spirituellen Wanderweg.

Frankenland – Marienland. Nicht umsonst hat der einstige Bischof von Würzburg und Erzbischof von München Kardinal Julius Döpfner die Region im Herzen Deutschlands so bezeichnet. Schließlich zieren nirgendwo sonst so viele Hausmadonnen die Häuserfassaden, säumen Bildstöcke den Weg, laden Kapellen und Marienwallfahrtsorte zu Einkehr und stillem Gebet ein.

„Dieser Schatz vor unserer Haustür ist es wert, entdeckt zu werden“, befand Pfarrer Josef Treutlein, seinerzeit noch Pfarrer einer Würzburger Innenstadtpfarrei. „Weil Ansehen und Verehrung der Herzogin von Franken bei der jüngeren Generation zusehends bröckeln“, wollte der gebürtige Franke ganz konkret etwas für die Hebung des „marianischen Grundwasserspiegels“ in seiner Heimat tun. Als er bei einem Waldspaziergang zufällig das Muschel-Logo der Jakobspilger entdeckte, war die Idee geboren: „Wir brauchen einen Weg, der die vielen Marien-Wallfahrtsorte in unserem Bistum in einer Art marianischer Pilgerspiritualität vereint.“

Seit 2002 verbindet der unterfränkische Teil des Fränkischen Marienwegs auf einer Länge von fast 900 Kilometern 50 kleine und große Wallfahrtsorte im Bistum Würzburg. Die Zahl 50 ist dabei nicht zufällig, sondern will bewusst an die 50 Perlen des Rosenkranzes erinnern. Startpunkt für die beiden Wegschleifen durch Unterfranken ist die Marienkapelle auf dem Marktplatz der Bischofsstadt Würzburg; sie verdankt ihre Entstehung der brutalen Vernichtung einer einst blühenden jüdischen Gemeinde. Von dort aus kann man dem markanten blau-weiß-roten Logo mit der Gottesmutter und dem Jesuskind nach Osten oder Westen folgen. Egal wohin es geht – mit Landschaften wie Rhön, Steigerwald, Haßbergen, Spessart, Odenwald, Maintal, Fränkischem Weinland und ausgedehnten Gauflächen ist der wander- und radfreundliche Weg stets sehr abwechslungsreich und bietet Erholung pur.

Angst vor dicken Füßen muss niemand haben. Einzelpilger oder Wallfahrergruppen können an jedem beliebigen Punkt einsteigen und eine passende Route auswählen. „Geh einfach los, nimm Deine Bibel oder den Rosenkranz mit und mach Dir Deine Gedanken“, empfiehlt Josef Treutlein, der seit 2014 als Wallfahrtsseelsorger auf dem Würzburger Käppele tätig ist. „Du wirst sehen: Schon beim Laufen fällt vieles von Dir ab, Du bekommst Kopf und Herz frei für das Wesentliche.“

Wanderer, die in Treutleins Pilgerhaus am Käppele, einem jubelndem Barock-Juwel von Balthasar Neumann, übernachten, berichten genau das: Pilgern sei „erholsam“, „entschleunigend“, „Urlaub für die Seele“, eine „ganzheitliche Form von Religiosität“. Viele Marienpilger zücken beim Erzählen voller Stolz ihren Pilgerausweis, der mit seinen unterschiedlichen Stempeln Zeugnis von den besuchten Stationen ablegt.

Nicht fehlen dürfen natürlich große Wallfahrtsorte wie der Engelberg mit seinen 612 steinernen Engelsstaffeln, Maria Limbach mit ihrer überbordenden Rokoko-Ausstattung, die mitten im Wald gelegene Klosterkirche Mariabuchen oder Maria im Sand in Dettelbach, die nach einer Wirtshaus-Schlägerei gestiftet wurde. Inmitten eines nur beschränkt zugänglichen Truppenübungsplatzes liegt der Maria Ehrenberg, beflügelnd wirkt das selige Lächeln der Retzbacher Madonna und geradezu sprichwörtlich geworden ist die Muttergottes von Schmerlenbach, deren Gesicht tief empfundenen Schmerz und unendliche Trauer ausdrückt. 

Doch nicht nur die bekannten Wege sind eine Pilgerreise oder einen Tagesausflug wert. Oft halten auch die kleinen Orte unverhoffte Schätze bereit: Verträumte Wegkapellen wie die Büttharder Maria-Schnee-Kappel, Maria Frieden im Obernauer Wald, die Kerlachkapelle bei Stadtlauringen, die Loretokirche in Effeldorf oder das Erlabrunner Käppele mit ihren ganz eigenen Darstellungen und Facetten aus dem Marienleben sind nicht nur für die Menschen vor Ort sehr wichtig, sondern öffnen den Blick für Gottes Spuren im eigenen Leben: „Wenn wir die Wege Marias mit Rucksack, Rosenkranz und Bibel nachgehen, wird das Wandern auf dem Marienweg zu einem ganzheitlichen Erlebnis, bei dem die fränkische Geographie des Glaubens zu einer spirituellen Landschaft im eigenen Inneren werden kann“, sagt Josef Treutlein. Einfacher ausgedrückt: Wer den Weg durch das Land geht, kann Maria als Mitpilgerin auf dem eigenen Lebensweg entdecken, kann Kraft aus ihren ganz menschlichen Erfahrungen schöpfen und Grundweisheiten wie Offenheit für Gott, Demut, Freude und Aufmerksamkeit füreinander neu entdecken.

Maria ist dabei keineswegs das Zentrum: „Der Blick auf sie lohnt sich vielmehr, weil sie ins Zentrum unseres Glaubens, zu Christus führt“, so Treutlein. Spätestens wenn man auf dem 928 Meter hohen, windumtosten Kreuzberg – dem heiligen Berg der Franken – in der Rhön steht, wird einem genau das bewusst. Stundenlang möchte man an klaren Tagen von den drei Kreuzen unter dem Gipfel in das Land der offenen Fernen blicken, bevor man dem seit 1654 auf dem Berg verehrten Kreuzpartikel einen andächtigen Besuch abstattet. Denn – so betonen es die dort ansässigen Franziskaner – „ohne das Kreuz wäre unser Glaube nutz- und sinnlos“.

Auch 18 Jahre nach seiner Errichtung wird weiter am Weg gefeilt, Wegverläufe verbessert, neue Orte einbezogen. 2019 wurde mit der Marienkirche in Königsberg die erste evangelische Kirche integriert; „Maria gehört schließlich nicht nur den Katholiken, sondern allen“, schmunzelt Treutlein, der regelmäßig Pilgerwanderungen anbietet und Vorträge hält. Mit dem Grimmenthaler Marienbildstock reicht der Weg sogar hinüber nach Thüringen in den alten Osten.

Ein ganz besonderes Highlight war die „große Osterweiterung“ im Frühjahr 2020. Mit der Ausdehnung ins Bistum Bamberg ist der Weg nicht nur um 1100 Kilometer länger und um 40 Wallfahrtsorte in Ober- und Mittelfranken reicher geworden, sondern er verdient seinen Namen als (gesamt-)Fränkischer Marienweg nun erst richtig. So ganz nebenbei ist er damit auch „der längste markierte Wanderweg Deutschlands“, wie Josef Treutlein stolz berichtet.

Ein Projektteam unter der Leitung des Bamberger Domkapitulars Dr. Norbert Jung und Josef Treutleins hat in Kooperation mit den regionalen Wandervereinen und dem Forchheimer Dekan Martin Emge zwei Routen erarbeitet. Mittelpunkt ist der Kaiserdom in Bamberg mit dem Hochgrab des Kaiserpaares Heinrich und Kunigunde, dem Marienaltar von Veit Stoß und der Marienpforte. Von dort führt die Ave-Maria-Route über das auf einem ehemaligen Militärgelände erbaute Schönstattheiligtum bei Scheßlitz durch den Gottesgarten bis hinauf nach Haßlach, dann über Kulmbach durch die Fränkische Schweiz bis nach Nürnberg und wieder zurück. Die Magnificat-Route wendet sich erst nach Süden bis Heilsbronn, berührt Rothenburg ob der Tauber und führt durch den Steigerwald wieder in die Domstadt Bamberg. Anbindepunkte an den unterfränkischen Teil gibt es bei Dimbach und dem Schwanberg sowie bei Maria Limbach und Zeil am Main.

Auf dem ober- und mittelfränkischen Teil tummeln sich kleine idyllische Gnadenorte ebenso wie kunsthistorische Leckerbissen: Nicht umsonst sind Vierzehnheiligen, Banz, Gößweinstein, die Nürnberger Frauenkirche oder die Creglinger Herrgottskirche weit über Franken hinaus bekannt. „Die Wallfahrtsorte in ihrer großen Vielfalt und die zahlreichen Glaubenszeugnisse am Weg wollen inspirieren und lassen den Wanderer die Seele der Landschaft und ihren spirituellen Reichtum entdecken“, sagt Josef Treutlein.

Zu einem guten Stück macht auch der Weg selbst den besonderen Reiz des Pilgererlebnisses aus. Wer durch den ursprünglichen Frankenwald streift, den Steigerwald mit seinen alten Baumriesen durchwandert, die bizarren Felsformationen und Höhlen der Fränkischen Schweiz erkundet oder sich entlang der lieblichen Flusstäler von Main, Regnitz und Pegnitz treiben lässt, wird rasch merken: Hier kann man leben. Hier kann man glauben. Hier kann man sein.

Anja Legge

 

 

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