Schon der Eingangsbereich des Einfamilienhauses erzählt beredt von der großen Leidenschaft seines Besitzers. „Ikonen sind meine Welt“, bestätigt Alfred Glaab denn auch und deutet voller Stolz auf die unzähligen Bildtafeln, die durch üppiges Gold und harmonische Farbigkeit bestechen. Seit nunmehr 40 Jahren schreibt der Kleinostheimer Ikonen und kommt dabei dem Geheimnis des Evangeliums jedes Mal ein Stück näher.
Wenn Alfred Glaab über sein Hobby spricht, ist er kaum zu bremsen. Er schwärmt von seinen Studienreisen nach Russland, erklärt kenntnisreich die Technik und präsentiert voller Begeisterung einen Pantokrator aus der Moskauer Schule, ein Abendmahl von Andrei Rubljow, einen Marientod von Theophanes und eine Engel-Desis von Simon Uschakow.
Dem Ursprung nach sind Ikonen (altgriechisch eikon = Abbild) Kult- und Heiligenbilder, die in den Ostkirchen, besonders der orthodoxen Kirche des byzantinischen Ritus verehrt werden. „Sie sind entstanden, weil sich das Volk ein Bild von dem machen wollte, was es liebt und was ihm heilig ist“, erklärt Glaab. Doch Ikonen sind weit mehr als Bilder von Christus, Maria, Engeln, Heiligen oder Szenen aus der Bibel. Als „Fenster zur Ewigkeit“ bezeichnen Experten sie, und das empfindet auch Glaab so. Für ihn haben Ikonen „eine sichtbare und eine unsichtbare Ebene“. Der meditative Charakter führe über die reale Welt hinaus und ermögliche einen Kontakt mit dem Göttlichen: „Wir sehen Farben, Formen, Licht, doch das Eigentliche muss sich erst erschließen.“
Seit 1981 schreibt der heute 74-jährige Ikonen. Eher zufällig habe er von der Technik aus Pigmenten, Eitempera und Blattgold gelesen und war sofort beeindruckt. Zig Jahre verdiente der studierte Grafikdesigner sein Brot in den Werbeabteilungen verschiedener Firmen, seiner wahren Leidenschaft ging er aber in seiner Freizeit nach. Drei bis vier Stunden verbringt der Rentner heute täglich in seinem Atelier. „Hier fühle ich mich geborgen“, sagt er und blickt liebevoll in den kleinen Raum, der mit Pinseln, Farben, Pigmenten, Holztafeln und Büchern vollgestopft ist. Von der Wand blicken ernste Ikonengesichter, im Hintergrund erklingt orthodoxe Musik aus russischen Klöstern.
Bevor Glaab eine Ikone beginnt, befasst er sich intensiv mit den Texten der Bibel und recherchiert im Internet Vorbilder. Denn: „Ikonen werden stets kopiert, es gibt keinen individuellen Gestaltungs-Spielraum“, stellt der Experte klar. Als Untergrund dient meist eine Lindenholzplatte, die mit Leinwand und einer Grundierung aus Kreide und Hasenleim überzogen wird. Dann überträgt Glaab die Vorlage mit einem Stahlnagel auf das Brett und legt die Gold-Grundierung an. Blättchen für Blättchen legt er das 23-karätige Edelmetall auf. „Eine diffizile Arbeit, aber es beruhigt.“ Schließlich wird die Ikone mit Farbe erschlossen. Lange hat Glaab mit Materialien und Farben experimentiert, als optimal hat sich die klassische Technik erwiesen – aus Pigmenten und Eigelb als Bindemittel.
Die Farben der Ikone haben stets symbolische Bedeutung: So steht Purpur für Herrschaft, Macht und Würde, blau ist geheimnisvoll, die Farbe des Himmels und der Unendlichkeit. Brauntöne deuten das Irdisch-Menschliche an, Grün verkörpert das Kleid der Erde, das Wachsen und den Triumph über den Tod, Dunkelbraun steht für Askese und Mönchtum, Schwarz für die ewige Finsternis und Weiß für Reinheit und Auferstehung. Das allgegenwärtige Gold ist „keine Farbe, sondern das Metall der Leben schaffenden Sonne, es symbolisiert das göttliche Licht als höchste Lichtqualität“, erläutert Glaab. Gearbeitet wird vom Dunklen ins Helle, die Hand auf der Handstütze, mit feinsten Pinseln und ganz viel Geduld. Zwischen 13 und 18 Lasurschichten legt der Ikonenschreiber übereinander, 20 bis 25 sind es sogar bei den Gesichtern, die ganz zum Schluss gemalt werden. „Der Moment, wenn ich die Pupille in das Auge male und die Figur mich anschaut, ist ergreifend. Da läuft es mir jedes Mal noch eiskalt den Rücken runter“, beschreibt Glaab die Faszination seines Hobbys.
Im Zugehen auf das Fest hat Glaab auch heuer wieder eine Weihnachtsikone geschaffen, denn „im Fest der Liebe und der Familie finde ich meine Geborgenheit“, sagt er. Während auf der Außenseite des kleinen Flügelbilds eine Verkündigungsszene entsteht, erwartet den Betrachter im Inneren die Gottesmutter Maria mit dem Kind in einer Höhle, auf dem rechten Flügel wird das Jesuskind von einer Amme gebadet, links sinniert der zweifelnde Josef. Wie alle Ikonen hat auch diese weder irdische Körperlichkeit noch Schattenwurf. Typisch ist auch die umgekehrte Perspektive mit dem Fluchtpunkt vor dem Bild: So entsteht der Eindruck, als ob eine göttliche Figur auf die Szene blickt. Details wie Gegenstände, Pflanzen, Tiere oder Gebäude sind ebenso symbolbehaftet: Zum Beispiel die angesichts des Göttlichen verhüllten Hände oder stilisierte Sendstrahlen aus dem Himmel. Bewusst wird die Krippenszene übrigens in eine Grabeshöhle verlegt, oft liegt das Jesuskind sogar in einem Sarkophag, denn: „Mit der Geburt beginnt bereits der Tod“, erklärt Glaab.
Zum Schluss erhält jede Ikone eine Schutzschicht aus Dammar oder Schellack. Und weil die Bildnisse sakrale Kultgegenstände sind, werden sie meist auch geweiht. 142 Ikonen hat Alfred Glaab bisher auf diese Weise geschaffen. In allen steckt nicht nur wochenlange Arbeit, sondern „ganz viel Seele und Herzblut“. Bei seiner Arbeit, die nicht als Kunst, sondern als geistliches Handwerk gilt, unterhält sich Glaab immer wieder mit dem Herrgott. Für den gläubigen Christen ist das „wie Gottesdienst“.
Obwohl der Kleinostheimer seine Ikonen für sich selbst schreibt, sind die kunstvollen Heiligenbilder mittlerweile an vielen Orten zu finden. Weil er „nichts mitnehmen kann“, verschenkt er die fertigen Stücke, an die Enkelin zur Konfirmation, die Schwägerin zum 70. Geburtstag oder ein befreundetes Ärzteehepaar. Außerdem hängen Glaabs Ikonen in den Kleinostheimer Kirchen, in der Kapelle des Würzburger Priesterseminars, in der französischen Partnergemeinde Bassens, in Vallendar bei Koblenz, im irakischen Basra und in Kerala in Indien. Ganz besonders stolz ist der Ikonenschreiber auf eine Mandylion-Ikone vom wahren Antlitz Jesu, die 2011 an Papst Benedikt übergeben wurde. „Auf diese Weise tragen meine Ikonen den Glauben zu den Menschen in alle Welt“, freut sich Glaab und plant bereits die nächsten Projekte.
Anja Legge