Hier bist Du genau richtig!

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Hier bist Du genau richtig!

Seit seinem ersten Studiensemester engagiert sich Michael Lindner-Jung bei der Würzburger Bahnhofsmission. Bei 60000 Hilfekontakten im Jahr und 40 Jahren vor Ort hat er vielfältige Erfahrungen damit gemacht, was es bedeutet, wenn eine Tür immer offensteht – bedingungslos und zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Was brauchen Menschen, wenn sie an der Tür der Bahnhofsmission anklopfen?
Klar, etwas zu essen, etwas zu trinken, Kleidung, vielleicht ein Bett. In Wirklichkeit ist es aber viel mehr. Die Tür der Bahnhofsmission führt in einen Raum. Einen Raum, in dem ich ankommen und so sein darf, wie ich bin. Hier werde ich wahrgenommen, finde ein Gegenüber, das mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt und für das ich in diesem Moment wichtig bin. Genau diese Erfahrung ist für unsere BesucherInnen von enormer Bedeutung. Denn oft erleben sie das Gegenteil: dass sie nicht passen, stören, nicht dazu gehören.

Mit welcher Haltung begegnen Sie Menschen, die nichts haben als die Plastiktüte in der Hand?
Ob jemand eine Tüte, einen Koffer oder gar nichts mitbringt, ist letztlich egal. Vielmehr ist die Frage entscheidend: Wer kann ich im Moment für dich sein, wer bist du gerade für mich? Was kann ich tun? Unsere BesucherInnen sind Menschen und keine Mängelwesen. Ein Problem ist nicht die Zugangsvoraussetzung zur Bahnhofsmission. Wirkliche Begegnungen entstehen auf Augenhöhe, im Wissen und Vertrauen darauf, dass uns etwas miteinander verbindet: Heute ist es das miese Wetter, morgen ein Spiel der Kickers, die verspätete Bahn, Betroffenheit durch Kriegsnachrichten oder die Inflation. In die Bahnhofsmission darf jeder rein, egal wie alt, woher und mit welchem Anliegen. Wenn du glaubst, es tut dir gut oder du brauchst Hilfe, dann bist du hier genau richtig.

Welche Erfahrungen machen Sie, wenn die Tür immer offensteht?
Wir wissen am Morgen nie, was uns tagsüber erwartet. Zu uns kommen Menschen, bei denen das Einkommen nicht mehr reicht und die sich fragen, was sie noch wert sind. Menschen in akuten Krisen – manche stehen psychisch so unter Druck, dass jeder Tag nur noch eine Last ist. Andere leiden unter wiederkehrenden Psychosen oder Suchtproblemen. Es kommen vereinsamte Ältere und Geflüchtete, Menschen in Beziehungskrisen, Menschen, die Gewalt erfahren haben oder die ein Ereignis völlig aus der Bahn geworfen hat. Frauen in Not finden bei uns auch eine Übernachtungsmöglichkeit. Auffällig ist: 80 Prozent der Menschen haben mehr als nur ein Problem. Und: Die meisten kommen nicht am Anfang ihrer Notlage, sondern erst, wenn sie gar nicht mehr weiterwissen. Für alle ist die Bahnhofsmission ein Ort zum Ankommen, an dem sie gesehen werden, ein Ort zur Verankerung.

Wie schwer fällt es, die Schwelle zu überschreiten und um Hilfe zu bitten?
Wer zum ersten Mal kommt, hat eine größere Schwelle zu überwinden, weil er sich dann als Hilfesuchender outet, weil er aus seiner Sicht dann zu denen gehört, die zur Bahnhofmission gehen. Dahinter stehen meist tiefer liegende Abwehrmechanismen und Projektionen. Und dennoch haben die Menschen die Bahnhofsmission auf der Liste.

Gibt es auch Grenzen der offenen Türen?
Bahnhofsmission ist ein Willkommensort, ein Gemeinschaftsraum und ein Schutzraum. Wenn eines dieser Kriterien bedroht wird, jemand aggressiv oder übergriffig auftritt, andere diskreditiert, ihnen den Respekt nimmt, sich unkontrolliert verhält oder andere angreift, müssen wir eingreifen.

Wenn ein Mensch wieder nach draußen geht, soll er…
Wenn es etwas zu essen oder heißen Tee brauchte, soll er das erhalten haben. Andere nehmen eine Auskunft oder eine Beratung mit. Noch viel besser, wenn Menschen im Bewusstsein gehen: Ich habe mich hier wohlgefühlt, die haben mir wirklich zugehört. Hey, ich bin doch eigentlich ganz okay und verdiene Respekt. So gehen Menschen auch innerlich gestärkt nach draußen und mit der Sicherheit: Wann immer ich Hilfe benötige, kann ich da wieder hin.

Wie verschlossen ist die Tür der Bahnhofsmission in Richtung Gesellschaft?
In Würzburg erfährt die Bahnhofsmission viel Aufmerksamkeit und wohlwollendes Interesse. Gleichzeitig sind wir aber auch in einer Situation, in der die Bürgergesellschaft auseinanderdriftet. Genau deshalb müssen wir die Türen weit aufmachen und offenhalten. Was wir mehr denn je brauchen, sind echte zwischenmenschliche Berührungspunkte statt nur Schnittmengen!

Gibt es Schicksale, die Sie bis heute bewegen?
Es beschäftigt mich sehr, wenn Menschen Gewalt erleiden: Ich erinnere mich an eine Frau, die zehn Jahre zu uns kam und in ihrer Beziehung immer wieder maximale Gewalt erfuhr, getreten, geschlagen und misshandelt wurde. Das anzusehen und auszuhalten, ist schwierig. Meist berühren mich nicht so sehr die Schicksale, sondern wie Menschen damit umgehen, manchmal scheitern. Ich erinnere mich an einen Bankangestellten, der Gelder veruntreut hat und danach vor sich selbst nicht mehr geradestehen konnte. In der Gesellschaft hatte er seinen Platz verloren und auf der Straße keinen neuen Platz gefunden. Schließlich hat er sein Leben beendet. Einen Alkoholkranken haben wir sechs Wochen lang begleitet; irgendwann hat er sich am Bahnhof von wildfremden Passanten per Handschlag verabschiedet und wurde zwei Wochen später tot aus dem Main geborgen. So etwas macht mich traurig. Doch diese Traurigkeit zeigt mir auch meine eigenen Grenzen, gibt das Signal Abstand und Abschied zu nehmen, den anderen seinen Weg gehen zu lassen.

Was empfinden Sie in der Begegnung mit Menschen, die unsere Gesellschaft an den Rand gedrängt hat? Wut, Trauer, Hilflosigkeit?
Überhaupt nicht, denn das würde die zwischenmenschliche Begegnung ja mit ganz anderen Themen überfrachten. Vielmehr habe ich das Bedürfnis, mehr vom anderen zu erfahren: Wer bist du, wie sehen deine Tage aus, was macht deine Tage zu guten Tagen? Oft bin ich dankbar, dass ich diesen Menschen begegnen darf. Denn hier erschließt sich mir so viel über das Leben, auf was es ankommt, über neue Sichtweisen und Zugänge, die ich anderswo so nicht finde.

Das Interview führte Anja Legge